André Rival

 

                               DAS THEATER DES AUGENBLICKS ODER WIE MAN SICH   

                                                   SEINER SELBST VERGEWISSERT

 

 „Picture yourself in a boat on the river, with tangerine trees and marmalade skies ."  (John Lennon)

 

Kunst entsteht aus der Unfähigkeit, die Welt zu akzeptieren, wie sie ist. Das gilt ebenso für die Fotografie, der man gerne, aber zu Unrecht nachsagt, sie bilde die Dinge ab, wie sie sind. Auch durch das Objektiv einer Kamera betrachtet, ist die Welt reine Anschauungssache. Die Fotografie liefert nicht nur getreue Abbilder unserer physischen Existenz. Als Kompliz-ine unseres bildhaften Denkens vermag sie, auch abstrakte Ideen und absurde Tagträume von der realen Welt anschaulich darzustellen und darüber hinaus massenhaft zu reproduzieren.

Die Fotografie ist das Medium der Kontemplation im Zeitalter der Beschleunigung, Film und Video ihre nervösen Kinder. Die Picture Shows von Helmut Newton, Richard Avedon, Irving Penn, Annie Leibowitz, Diane Arbus, Nan Goldin ziehen ebenso viele Zuschauer in die Museen wie Leonardos „Mona Lisa“ oder Van Goghs „Sonnenblumen“. Vintage Prints (Originalabzüge)  werden auf dem Kunstmarkt zu horrenden Preisen gehandelt und als Poster, Postkarten und Kalender verramscht. Aufwendig gestaltete und entsprechend teure Fotobücher fehlen in keinem Bücherschrank kunstbeflissener Zeitgeister, und jeder Fotokünstler möchte zu Lebzeiten sein Oeuvre als Buch gedruckt sehen.

Seit Anfang der neunziger Jahre arbeitet André Rival als freischaffender Fotograf für Zeitschriften und Magazine. Er beherrscht sein Handwerk, er weiß jeden Auftrag professionell zu erledigen. Seine unpreußische Art, nicht nur Spaß bei der Arbeit zu haben, sondern ihn auch in seinen Bildern einzufangen, machte ihn rasch zum gefragten Porträtisten von Prominenten und Stars. Aber auch als Reportage- und Landschaftsfotograf erwarb sich André Rival einen Ruf in der Branche. Seine überdimensionalen deutschen Naturpanoramen für das Magazin GEO gehören zum Besten, was dieses zu Unrecht unterschätzte Fotogenre zu bieten hat.    

Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Paris, der Hauptstadt der europäischen Fotografie, und einem kurzen Gastspiel als Art Director des Ostberliner Modejournals SIBYLLE debütierte Rival mit einem Fotoband, der ihn über Nacht bekannt machte. Das Ungewöhnliche an „100 Frauen-Selbstansichten“, erschienen 1995, ist weniger die puristische Behandlung des Themas Aktfotografie, die sich einem männlich-verklärten Blick auf den weiblichen Körper verweigert, sondern die Abwesenheit des Fotografen beim Fotografieren. Die Aktmodelle posieren vor der Kamera, wie sie sich sehen, und bedienen den Apparat mittels eines Fernauslösers. Der Fotograf stellte freilich nicht nur seine Technik und sein Atelier zur Verfügung, er schuf die Abzüge und setzte quasi post festum seine Idee einer erotischen Selbstbespiegelung von Frauen in traumhaft-schwerelosen Bildern um. Der Künstler war vom großen Erfolg seines Buches, vor allem in Amerika, eher verunsichert. Denn das Konzept, das von der Werbeindustrie vielfach kopiert wurde, gibt noch kaum Auskunft über das wirkliche fotografische Talent seines Schöpfers.     

So zog Rival nach New York, entschlossen, to make it every- where, if he can make it there.  Im East Village, dort wo die Selbstdarsteller wohnen, entstand die Idee, bei Porträtaufträgen immer eine Aufnahme zusätzlich zu machen, die André Rival zusammen mit der porträtierten Person in einer witzigen Konstellation oder Situation zeigt. Nach und nach enwickelte sich daraus die Obsession für ein théatre des realités, bei dem der Fotograf nicht nur Zuschauer, sondern auch Schauspieler, Regisseur und Autor in einer Person ist. Auf dem Gymnasium in Berlin-Zehlendorf war Rival Mitglied eines angesehenen Schülertheaters. Er hatte stets die meisten Lacher, hielt sich aber nicht für begabt genug, um daraus einen Beruf zu machen. Heute entspringt sein Wunsch, vor der Kamera zu agieren, sowohl der heimlichen Neigung zur Schauspielerei als auch der unverhüllten Absicht,  einem Grundkonflikt der Fotografie auf sehr eigenwillige Weise zu Leibe zu rücken. In ihr verschwindet der Fotograf in dem Maß, in dem seine Fähigkeit, die objektive Welt zu subjektivieren, Transparenz gewinnt. Die „Gewalt des Augenblicks“ sagt zwar viel über die Kühnheit und das Talent des Fotografen aus, die flüchtige Welt in die Parenthese der Ewigkeit zu zwingen, doch nichts über seinen augenblicklichen Seinszustand. Auf die Frage, warum er mit der Kamera festhalten will, was er nicht sieht, antwortete der blinde Fotograf Evgen Bavcar: „Um zu beweisen, daß ich existiere.“ Fotos sind forensische Beweise des Täters am Tatort. Wie in dem Film [...??] von István Szabó, in dem ein Mann fragt: „Soll ich in den Baum ritzen: Ich war hier oder ich bin hier?“, sucht Rival das Paradoxon der anwesenden Abwesenheit seines Ichs im fertigen Bild durch spontane Selbstinszenierungen aufzulösen. Dabei ist er sich der Fragwürdigkeit seines Unternehmens bewusst und verzichtet in seinem spielerischen Konzept auf jede spitzfindige oder erklärende Theorie. Die ungebremste Lust am Inszenieren cineastischer Standbilder, modischen Kitsches oder peinlicher Werbeposen steht am Anfang und am Ende seiner bisweilen abgründigen, oft abseitigen, aber nie zynischen oder gewalttätigen Männerphantasien. Offen bekennt sich Rival zu fotografischen und malerischen Vorbildern, die er mit sicherem Gespür für Atmosphäre und einer bisweilen an Besessenheit grenzenden Liebe zum Detail zitiert, kommentiert oder auch lustvoll demontiert. Von Helmut Newton bis Raymond Depardon, von Jean Auguste Dominique Ingres bis Gerhard Richter reicht die Reihe derer, denen seine unverhohlene Bewunderung gilt.  Trotz aller Vor-Bilder spricht Rivals unbändige Phantasie ihre eigene, wenn auch nicht sofort ins Auge springende Kunstsprache. Sie wird allerdings  von den weder gewollt tiefgründigen noch harmlos-witzigen Bildideen zunächst verdeckt und muss im Kontext der Selbstbeschreibung des Fotografen als Subtext gelesen werden. Für mich ist es die melancholische Trauer und das romantische Empfinden des Dummen August, die André Rival in diesen Bildern zum Ausdruck bringt und die ihn nicht nur in der Namensähnlichkeit in die Nähe von „Akrobat schö-ö-ö-n“ Charlie Rivel rückt.

Rivals circensische Fotokunst ist wie eine Zwiebel, die einen zu Tränen rührt, je mehr ihrer verborgenen Schichten man freilegt. In seiner privaten Peep-Show wird die öffentliche Zurschaustellung von Prominenten auf sympathische Weise entzaubert, während sie selbst aus ihrer Idealisierung befreit werden. Durch Rivals kalkulierte Auftritte, die, wie bei jedem wahren Clown, eine gesunde Ignoranz gegenüber gutem oder schlechtem Geschmack beweisen, erhalten die Ikonen der Medienwelt – Entertainer, Politiker, Models, Sportler – eine menschliche Kontur, die sonst selten zum Vorschein kommt. Indem er die Medien-Stars zu Nebendarstellern seines professionellen Laientheaters degradiert, lässt er sie trotz ihrer geübten Posen nahezu authentisch erscheinen. So gesehen ist das fotografische Bestiarium des André Rival ein subversiver Gnadenakt der Humanisierung einer Bilderwelt, die ihre Lieblinge zwingt, sich zu Tode fotografieren zu lassen.

Vor allem aber ist der zweite Fotoband von André Rival ein Geschenk an seine dreijährige Tochter, das sie dereinst zu ihrem 18. Geburtstag erhalten soll. Bis dahin könnte sich das schräge Familienalbum „Who is Who neben Papa“ zur Enzyklopädie ausgeweitet haben. Rival kriegt sie alle vor seine Candid Camera. Denn wie sagte schon der griechische Philosoph Heraklit: Sein ist abgebildet sein.



 

Thomas Knauf  2002